Jede neue Sprache ist wie ein offenes Fenster, das einen

neuen Ausblick auf die Welt eröffnet und die

Lebensauffassung weitet.

Frank Harris

 

 

Leseprobe

 

aus: Chris Cander "Das Gewicht eines Pianos" (Harper Collins, 2018)

 

 

Clara erwachte vom Heulen des Windes. Es war noch dunkel. Sie stemmte sich hoch, schmatzte gegen das Wattegefühl in ihrem Mund an und warf einen Blick auf ihr Handy. Nach wie vor kein Empfang, aber der Akku hatte noch Saft. Sie hatte Durst und dachte kurz an die beiden großen Wasserflaschen, die sie draußen neben dem Laster hatte stehen lassen, trank dann aber stattdessen den letzten Rest Wein. Das Pfeifen und Rauschen des Windes verursachte ihr eine Gänsehaut im Nacken. Es klang fast melodiös. Sie zog sich die Decke enger um die Schultern und lauschte mit schief gelegtem Kopf. Es war nicht der Wind.

Wahrscheinlich spielte ihr ihre Wahrnehmung einen Streich. Ja, sie war angetrunken, aber in ihren Schläfen pochte eine andere Art von Rhythmus, einer, den sie von früher kannte und den ihr eine ihrer Klavierlehrerinnen vor Jahren beizubringen versucht hatte. Chopin? Eine der Nocturnen? So verwirrt und benommen sie auch war nach dem unruhigen Schlaf, sie wusste, diese Klänge entsprangen nicht nur ihrer Fantasie. Sie war bei weitem nicht talentiert genug, um derlei musikalische Details im Gedächtnis zu behalten – im Gegensatz zu ihrem Vater und anderen Menschen, die in der Lage waren, sich ganze Stücke Note für Note einzuprägen, Ohrwürmer, die sich durch ihre Schläfenlappen bohrten. Sie drehte sich um, versuchte, sich zur Musik hin zu orientieren. Die variierende Geschwindigkeit des Windes ließ einzelne Töne höher oder tiefer, gedämpft und grauenhaft schief klingen und sorgte so dafür, dass es ihr schwer fiel, der Melodie zu folgen. Vielleicht schlief sie ja noch und träumte nur?

Die Melodie schien nach unten zu schlittern gleich den Felsbrocken, die sich von den Berghängen ringsum lösten und auf der Playa landeten, dann ließ ein nach oben kletternder Wecksel von Crescendo und Decrescendo den Anblick der zerklüfteten Bergketten vor ihrem geistigen Auge entstehen, und hohe, trillernde Noten wurden zu farbigen/bunten Funken vor dem Hintergrund des Staubs, der den Boden der Welt bedeckte. Als nächstes imitierte die an- und abschwellende Melodie die Bewegungen düster-bedrohlicher Wolken, die über den Himmel wogten. Sie sah, was sie hörte.

Dann eine Pause ein, gerade lange genug, um ihr bewusst zu machen, dass die Musik, die sie hörte, nicht nur tatsächlich erklang, sie entsprang ihrem Klavier, und sie klang gedämpft, weil sie aus dem Inneren des Lasters kam. Clara kletterte aus der Fahrerkabine. „Hallo?“, sagte sie sotto voce. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie auf Zehenspitzen am Laster entlang nach hinten schlich. Das Rolltor war zu. Hatten die Jungs vergessen, es abzuschließen?

Das Stück, was auch immer es gewesen war, endete, und sie erstarrte in der abrupten Stille. Vielleicht hatte sie es sich doch nur eingebildet. Sie hielt die Luft an, solange es ging, wartete ab. Als sie ausatmete, bildete sich in der kalten Luft eine kleine Wolke, und im selben Moment ertönte drinnen ein neues Stück, schnell und eindringlich, mit einem durchgehenden, fast frenetischen Rhythmus. Wieder machte ihr Herz einen Satz: Daran erinnerte sie sich sehr deutlich. Es war sogar, selbst nach all den Jahren entschlossenen, aber letztlich fruchtlosen Klavierunterrichts das einzige, dass sie auf der Stelle wiedererkannte, obwohl es auf einem verstimmten Klavier gespielt wurde, denn es war das Stück, das sich ihr Vater im letzten Jahr seines Lebens immer und immer wieder auf der Stereoanlage angehört hatte und das zu spielen sie nicht in der Lage gewesen war, das Stück, das sie seither in ihren Träumen verfolgte. Skrjabins Prélude No. 14 in es-Moll.

Sie sah ihren Vater vor sich, wie er mit geschlossenen Augen in seinem Arbeitszimmer saß und seiner Melodie lauschte, die Armlehnen seines Sessels umklammernd, als müsste er dagegen ankämpfen, dass er davonschwebte. Die Musik war laut genug, um die Nachbarn zu ärgern, und die frühe Morgensonne ließ sein dunkelrotes Haar leuchten wie einen Heiligenschein. Ihre Mutter war bereits außer Haus; an dem bewussten Tag sollte ihr Vater sie zur Schule zu fahren. Sie hatte ihn eben daran erinnern und ihm sagen, dass sie zu spät kommen würde, wenn sie sich nicht bald auf den Weg machten, doch dann bemerkte sie seine Hände auf den Sessellehnen, die weißen Fingerknöchel, die Tränen, die ihm über die frisch rasierten Wangen liefen, und sie hütete sich wohlweislich, ihn zu stören. Sie kam kaum je zu spät, ihre Klassenlehrerin würde bestimmt Verständnis zeigen.

Daddy dachte sie jetzt, und ihre Zweifel lösten sich in Luft auf. Ja, sie stand mitten in der Nacht in der Wüste, und ja, es war möglich, dass sie geträumt hatte oder möglicherweise sogar im Begriff war, den Verstand zu verlieren, aber das war ihr egal. Als sie das Rolltor ein Stück nach oben schob, erwartete sie so halb, das Innere des Lasters verändert vorzufinden und ihren auf sie wartenden Vater in seinem Sessel zu erblicken. Diesmal würde sie ihn nicht entwischen lassen. Sie würde sich auf seine Knie setzen, wie sie es sich die vergangenen vierzehn Jahre ersehnt hatte, und auch davor schon, und ihr einsames Haupt an seine Schulter lehnen.

Doch stattessen erblickte sie Greg im Inneren des Lasters. Er saß auf der Kühlbox und einem Stapel wattierter Decken vor dem Blüthner und spielte.

Das Stück war kurz, nur etwa eine Minute, in der Farben spritzten und Finger flogen. Greg beugte sich über die Klaviatur, das linke, steife Bein seitlich ausgestreckt, der rechte Fuß bearbeitete die Pedale. Er schien nichts um sich herum wahrzunehmen, weder, dass sich das Tor geöffnet hatte, noch den kalten, staubigen Wind, der hereinwehte, und auch nicht Clara, die mit offenem Mund davorstand. Auf seinem geröteten Gesicht glänzte eine Schweißschicht, während er sich in dynamischen Wellen nach oben arbeitete zum dröhnenden Höhepunkt, um dann die Kadenz hinunterzustürzen und mit einem lauten, trägen Donnergrollen zu einem abrupten Ende zu kommen.

Er ließ die Hände auf den Tasten liegen und legte, als der letzte Ton verklungen war, heftig nach Luft ringend den Kopf darauf ab.

 

 

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags